Titel #3: Leben in Gemeinschaft

„Leben heißt, Anteil zu nehmen an den Mitmenschen. Teil des Ganzen zu sein, nach Kräften zum Wohl der Menschheit beizutragen.
Alfred Adler

Die Individualpsychologie ist eine Sozialpsychologie.

Der Mensch ist ein soziales Wesen. Das Konzept des Gemeinschaftsgefühls ist in der Individualpsychologie von zentraler Bedeutung. Wir können nur in Beziehungen zu anderen existieren. Die eigene „Wertigkeit“ zum Beispiel kann nur dadurch entstehen, dass ich mich mit den Bewertungen der „Anderen“ auseinander setze. Es gibt somit eine unausweichliche Bezogenheit zwischen Individuum und Gemeinschaft. Laut Alfred Adler tragen wir alle eine Anlage zum Gemeinschaftsgefühl in uns. Die Frage ist, wie wir es entwickeln. Eine gute Entwicklung zeigt sich dann, wenn der Mensch sein Handeln und seine Ziele auf das Wohlergehen der Gemeinschaft ausrichtet. Die Fähigkeiten zur Kooperation und Konfliktlösung sind zum Beispiel positive Indikatoren für entwickeltes Gemeinschaftsgefühl.

 

 

Der Mensch erschafft sich seine eigene Realität. Adler hat den Begriff Lebensstil geprägt. „Menschsein heißt sich minderwertig fühlen“ (Adler). Dieses Gefühl der Minderwertigkeit gleichen wir in einem kompensatorischen Streben zu einem gefühlten Plus aus. Was das gefühlte Plus ausmacht, bestimmen wir selbst. Bereits von klein an ergründen wir über „Versuch und Irrtum“, wohin uns unser Handeln führt, und was es uns bringt. Die Aktivitäten, die uns zu einem gefühlten Plus – zum Erfolg – führen, werden als Strategie beibehalten – die anderen vernachlässigt. So entwickelt sich unser Lebensstil, der einzigartig ist und sich wie ein roter Faden durch alle Ebenen zieht. Wir selbst sehen und bewerten die Dinge so, wie sie in unseren Lebensstil passen. Wenn es um „die Wahrheit“ geht, gelangt man hier zu einer wichtigen Einsicht: „Alles kann auch ganz anders sein.“

 

Die Individualpsychologie ist eine holistische Psychologie.

Die Individualpsychologie sieht das Handeln des Menschen als zielgerichtet (final, intentional) an, d. h. menschliches Handeln hat einen Zweck, eine Richtung und einen Sinn. Es geht nicht vorrangig um eine Ursachenforschung im kausalen Sinn sondern darum die oft unbewussten individuellen Ziele zu entdecken, um das Handeln verständlich zu machen. „Nicht die Erlebnisse eines Kindes diktieren seine Handlungsweise, sondern die Schlussfolgerungen, die es aus diesen Erlebnissen zieht.“ (Adler). Diese Schlussfolgerungen bestimmen die Ziele, die sich ein Mensch setzt. In diesem Umstand liegt eine ungeheure Freiheit, aber auch eine große Verantwortung: Es ist möglich, dass wir unser Handeln selbst bestimmen. Das Verstehen des Handelns und das Erkennen der zugrundeliegenden Ziele ist eine wichtige Voraussetzung für einen Veränderungsprozess. Dies kann in Beratung stattfinden.

 

Um den Menschen mit seinem individuellen Lebensstil verstehen zu können, muss man ihn immer als ganzheitliches Wesen innerhalb seiner sozialen und kulturellen Strukturen betrachten. Eine holistische oder ganzheitliche Betrachtungsweise heißt, dass die Elemente eines Systems durch ihre Strukturbeziehungen definiert sind. Da Gender eine der wichtigsten Strukturkategorien ist, wird an dieser Stelle sehr deutlich, dass die erfolgreiche Arbeit mit Frauen sowohl in den gesellschaftlichen, kulturellen und strukturellen als auch in den persönlichen Zusammenhang eingebettet sein muss. Der Name Individualpsychologie – abgeleitet vom lateinischen In-Dividuum = das Unteilbare – verweist darauf, dass Adler den Menschen immer als Einheit betrachtet.

 

Die Individualpsychologie ist eine Tiefenpsychologie.

Das Unbewusste ist ein wichtiger Terminus in der Individualpsychologie. Adler versteht das Unbewusste allerdings ebenfalls als zielgerichtet. D. h. es hat einen Zweck, dass bestimmte Dinge unbewusst = nicht präsent sind. Dass die Grundlagen des Lebensstils in der frühen Kindheit gelegt werden, ist eine tiefenpsychologische Betrachtungsweise. Die Arbeit mit frühen Kindheitserinnerungen und Träumen gehört zu den wichtigsten individualpsychologischen Methoden. Individualpsychologische Beratung kann mit Hilfe der tiefenpsychologischen Methoden auch tief greifen und aus der Kindheit resultierende Konflikte, die heute sichtbar werden, lösen helfen. Die Beratung darf allerdings nicht mit Therapie gleichgesetzt werden, auch wenn sie sich tiefenpsychologischer Methoden bedient.